In jedem Mensch wohnt auch ein Zauber

Der Zauber in uns

Man sagt, dass Leben sei Veränderung. Man sagt, man selbst sei dabei der Motor und könne alles erreichen, was man will. Ich selbst bin dafür der lebende Beweis. Mein Name ist Athan, ich bin 32 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder. Ich leite in Sidney eine der größten IT-Firmen Australiens, verdiene mehr, als ich ausgeben kann, und bin glücklich. Nicht wegen des Reichtums oder meiner Arbeit. Wohl eher wegen meiner Familie, und insbesondere, weil ich den Zauber dahinter verstanden habe. Aber: der Reihe nach.

Im Alter von 12 Jahren lebte ich mit meiner kleinen Schwester Arona bei meiner Mutter. Wir gehören in Australien zu den Ureinwohnern, die man hier deswegen auch „Aborigines“ nennt. Mein Vater mochte diesen Begriff nie. Er erklärte, dass wir „Wonghi“ seien, weil wir eben im Westen Australiens lebten. Ich wohnte bei meiner Mutter, weil ich damals noch kein Mann war. Alle Jungen in meinem Alter teilten dieses Schicksal. Die Männer lebten hingegen unter sich in ihren Lehmhütten am Ende unseres kleinen Dorfes. Dort hielt sich auch mein Vater auf. Ab und zu durfte ich ihn dort besuchen. Für mich war es immer etwas Besonderes, bei ihm zu sein.

Athan heißt übersetzt übrigens „das ewige Leben“, hat mir meine Mutter mal erklärt, ohne mir auch zu erklären, wie man ewig leben kann. Sie erzählt mir mal: „Athan, das Leben ist wie ein Traum, der Wirklichkeit wird. Deswegen träume immer von den guten Dingen, das wird die schlechten Dinge vertreiben und du kannst alles erreichen, was du willst.“ Natürlich fragte ich meine Mutter, wie ich das machen soll. Wie kann ich auf meine Träume so einen Einfluss nehmen, dass sie nur gut werden? Meine Mutter lächelte dann immer nur, schwieg und kehrte zu ihrer Arbeit zurück, die sie zuvor unterbrochen hatte, um mir die „Traumzeit“ unserer Urahnen zu erklären.

Ich besuchte die Schule in der benachbarten Stadt. Um dort hinzukommen, musste ich zuerst einen Fußweg von 5 Kilometern hinter mich bringen, um dann mit dem Bus in die Stadt zu fahren. In meiner Klasse war ich der einzige Wonghi. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Sie mieden mich und oft musste ich mich in der Klasse ganz nach hinten setzen, weil sie sagten, sie könnten meinen Anblick nicht ertragen. Eigentlich machte mir das alles nichts aus. Ich ging ja in die Schule, um etwas zu lernen und nicht, um mich zu ärgern. Nur ein Mädchen hielt immer fest zu mir und nahm mich dauernd in Schutz, was bei den Jungs immer nur noch mehr Gelächter provozierte. Deswegen nannten mich die Jungs auch „Tifi“, was so viel wie Mädchen bedeutet.

Dennoch: Ich mochte mein Leben. Sicherlich lief nicht immer alles optimal aber im Großen und Ganzen war ich zufrieden. Ich stand morgens auf, ging zur Schule, kam wieder zurück, aß mit meiner Mutter und meiner Schwester gemeinsam zu Mittag und war dann mit den anderen Jungs irgendwohin unterwegs. Wir liefen, kletterten, überwanden gemeinsam Hindernisse und trafen mitunter auf die kuriosesten und komischten Tiere Australiens, wie z. B. riesigen Spinnen, giftigen Schlangen und ziemlich flinken Eidechsen.

Alles toll – und doch fehlte mir irgendetwas. Immer häufiger fühlte ich eine tiefe Sehnsucht in mir. Dabei wurde ich häufig unruhiger und lief – gedankenversunken – umher. Meine Mutter merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte, und holt mich dann immer zu sich, um mir diese eine Geschihte zu erzählen. Mir war die Geschichte bekannt, denn sie wurde mir – seit ich denken kann – immer mal wieder von ihr erzählt.

Meine Mutter begann die Geschichte immer mit dem Satz: „Athan, in jedem Menschen wohnt auch ein Zauber.“ Hier hatten wir immer ein kleines Ritual: Ich kam dann ganz nahe zu meiner Mutter, legte beide Unterarme auf den Tisch, die Hände übereinander und mein Kinn legte ich dann auf die oberste Hand. Meine Mutter wartete immer diesen einen Moment lang, bis ich zur Ruhe kam und gespannt meine Augen zum Zuhören schloss. So konnte ich die Geschichte wie ein Film vor mir ablaufen lassen. Dann fuhr sie fort: „Es sind die Geister, die in uns leben und die sich irgendwann dazu entschließen, sich zu offenbaren. Dies geschieht immer in den Nächten, in denen es besonders dunkel ist. Diese Geister sollen so furchterregend aussehen und einen solchen Lärm machen, dass die Menschen, denen sie sich offenbaren, keine Möglichkeit mehr haben, sich zu bewegen oder zu sprechen. Alle anderen Menschen können diese Geister weder sehen, noch hören. Wärend sich die einen, denen sich die Geister offenbaren, in einer für sie schrecklichen und angsterfüllten Situation befinden, schlafen die anderen ganz in der Nähe ruhig und friedlich weiter.“

Obwohl ich diese Geschichte schon so oft gehört hatte, bekam ich jedes Mal an dieser Stelle eine Gänsehaut. Ich hatte nie eine Vorstellung davon entwickelt, was genau so „furchterregend“ sein sollte und wie stark Lärm sein musste, um davon starr vor Angst zu werden. Mein Herz pochte, dennoch ging die Geschichte weiter und ich wollte sie unbedingt bis zum Ende hören.

„Athan, diese Geister machen die Menschen schwerelos und zusammen verlassen die Menschen dann das Dorf, in dem sie aufgewachsen sind. Dabei lachen und grölen die Geister und machen sich lustig über die Menschen und ihre Angst. Gemeinsam fliegen sie zu einem geheimnisvollen Ort, an dem sie noch nie zuvor gewesen sind.“ Hier stellte ich mir immer einen gruseligen Ort mit verdörrten Bäumen, einem großen Feuer, bei denen man die umherfliegenden Kreaturen nur an ihren Umrissen erkennen konnte und einer kalten, feuchten und nach Moder riechenden Luft vor.

„In dieser Nacht und an diesem Ort befehlen die Geister den Menschen, mit ihren Händen in der Erde zu graben. Sie sollen so lange graben, bis jeder Mensch ein so großes Loch ausgehoben hat, dass er selbst hineinpasst. Dann wird jeder Mensch von den Geistern in das eigene Loch gestoßen.“ Vor meinem geistigen Auge sah ich fallende Körper und hörte ihr dumpfes und schnell verstummende Geräusch bei ihrem jähen Stopp, wenn sie mit dem Boden in Berührung kamen. „Ja und dann?“, fragte ich immer mit großen und fragenden Augen, die Hände nun jeweils vor Aufregung links und rechts an meinen Wangen befindlich. „Nichts…“, antwortete mir meine Mutter kurz, „…die Geister waren plötzlich fort…“.

Als mir meine Mutter das letzte Mal diese Geschichte erzählte, fügte sie überraschenderweise hinzu: „Athan, habe keine Angst, wenn sich dir die Geister offenbaren. Sie sehen zwar furchterregend aus und machen einen großen Lärm und Radau, dennoch kannst du dich ihnen anvertrauen.“

An diesem Abend schlief ich mit einem sehr flauen Gefühl im Magen ein. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich – mitten in der Nacht – nach einer kurzen und traumlosen Phase  aufwachte. Ich hatte Geräusche gehört, die mir nicht vertraut waren. Erst ganz leise und ich glaubte, sie mir einzubilden. Es war ein leichtes Rauschen, wie es der Wind erzeugte, wenn er die Bäume und Sträucher neben unserer Hütte durchwühlte. Dann merkte ich, dass es sich nicht um den Wind handeln konnte. Das Rauschen wurde ein Rascheln und ich hörte ein Raunen von Stimmen, welches zusehends lauter wurde. Kurz sah ich zu den Betten meiner Mutter und meiner Schwester: Sie schliefen tief und fest und schienen von alldem nichts mitzubekommen.
Plötzlich brach die Hölle über mich ein. Gestalten tanzten um mich herum, sie brüllten und schrien. Sie berührten mich, zogen an Armen und Beinen und ich spürte den kalten Hauch ihres Atems in meinem Gesicht. Ich riss die Arme vor mein Gesicht, um mich zu schützen, und schrie unentweg: „Lasst mich in Ruhe, lasst mich in Ruhe mit euch Geistern will ich nichts zu tun haben, mit euch gehe ich nicht mit!“ Dies schien allerdings nichts zu bewirken – im Gegenteil: Ich hörte eher eine gewisse Belustigung und die Geister schienen sich an meiner Angst zu ergötzen.

Dann fühlte ich, wie ich langsam vom Boden abhebte. Mir wurde plötzlich klar: Hier bewahrheitet sich die Geschichte, die ich immer von meiner Mutter erzählt bekommen habe. Sie hatte auch immer wieder betont, dass es in allen Geschichten auch immer einen wahren Kern gebe. Ich merkte, dass ich von diesen Kreaturen langsam aus der Hütte hinausgetragen wurde, und dort konnte ich erkennen, dass es allen meinen Freunden genauso erging. Einer meiner Freunde hatte riesige Augen, den Mund weit aufgerissen und er verharrte in dieser Position vor Angst. Ein Anderer schaute ängstlich umher und ich hörte ihn schreien: „Nein, ich will nicht, was macht ihr mit mir?“.

Es half nichts. Wir schwebten aus dem Dorf und ich nahm still und leise Abschied von meiner Mutter, meinem Vater, meiner Schwester und dem Ort, in dem ich bis zu diesem Zeitpunkt mein Leben verbrachte.

So, wie es mir meine Mutter immer erzählte, verlief es auch weiterhin. Irgendwo stoppte unsere Schwebefahrt und wir wurden unsanft auf den Boden gesetzt. Plötzlich redeten Stimmen auf uns ein. Zuerst kaum verständlich, weil durcheinander, dann langsam und gemeinsam im Takt: „Grabt mit euren Händen, grabt mit euren Händen, tief und tiefer soll es sein.“ Und wir gruben und gruben. Mit bloßen Händen schaufelten wir uns den Weg ins Erdreich. Zuerst langsam und zaghaft, dann – angestachelt durch die angsteinflößenden Stimmen – immer schneller. Im ersten Moment schossen mir die Tränen ins Gesicht, da meine Fingerspitzen immer wieder auf Steine und stachlige Überreste längst vergangener Sträucher stießen. Nach und nach stellte sich der Schmerz ein und ich baggerte mich mechanisch voran. Als die Arbeit getan war, musste sich jeder von uns vor unsere jeweiligen Gruben aufstellen. Ich sah, wie eine der Kreaturen meine Freunde nach und nach in ihre Gruben schubste und hörte nur noch den Aufschlag ihrer Körper auf den Boden der Gruben. Dann: Stille. Genau so hatte ich es mir bei den Erzählungen meiner Mutter immer vorgestellt.

Dann war ich an der Reihe. Einer der Geister stand plötzlich vor mir, grinste mich an und gab mir, ohne zu zögern, einen kleinen Stoß, sodass ich das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Ich versuchte noch, mit einem Schritt nach hinten Fuß zu fassen. Dieser Schritt fand jedoch keinen Halt und ich fiel in die Leere. Ich hielt den Atem an und erwartete mein Ende. Eine kurze Zeit lang fühlte ich mich schwerelos. In meinem Magen nahm ich ein kribbelndes Gefühl wahr. Dann schlug ich auf den Boden auf.

Als ich wieder zu mir kam, waren die Geister weg. Auch das kannte ich aus der Geschichte meiner Mutter. Ich wollte immer wissen, wie die Geschichte ausging, nun erlebte ich dessen Ende hautnah.

Die Kreaturen verstummten plötzlich. Nicht nur das: Sie veränderten auch ihre äußerliche Erscheinung. Ich sah, wie sie sich langsam und mechanisch bewegten, zuerst ihre Gewänder und Stofffetzen abstreiften und dann langsam ihre Gesichter abrieben. Die Verwandlung vollzog sich langsam vor meinen Augen. Eine dieser Gestalten löste sich in einer langsamen, aber gleichbleibenden Bewegung aus der Gruppe der Anderen und stand plötzlich vor meiner Grube.

Mit einer mir sehr vertrauten Stimme sprach diese Gestalt zu mir und sagte: „Mein Sohn: Sieh mich an, ich bin dein Vater und du bist mein geliebter Sohn.“ Ich fühlte mich plötzlich unendlich erleichtert und leer und konnte mich kaum noch an das eben erlebte Mysterium erinnern. Mein Vater fuhr fort: „Sohn, du wurdest als Kind in diese Grube gestoßen und ich hole dich nun als Mann aus eben dieser in das Leben zurück.“ Daraufhin reichte er mir seine Hand, ich nahm sie an und er zog mich aus der Grube. Mein Vater erklärte weiter: „Sohn, schau noch einmal in diese Grube und schau noch einmal auf deine Kindheit.“ Mit offenen Mund folgte ich der Aufforderung meines Vaters und schaute zurück in die Grube. Ich sah mich dort, wie ich noch bis vor kurzem ängstlich, klein und eingeschüchtert lag. Ich verstand, dass dies nun der Vergangenheit angehörte.

Mit leidenschaftlichem Gesang, gelöstem Tanz und viel Geweine unserer uns erwartenden Mütter kehrten wir in unser Dorf zurück, aus dem wir als Kinder entführt wurden. Wir waren stolz auf uns, weil wir nun als Männer zurückkehrten. Folglich durften wir bei den Männern wohnen, und ich bei meinem Vater.

Am nächsten Tag ging ich – wie gewohnt – wieder in die Schule. Unbewusst und noch in Gedanken bei den Vorfällen der letzten Nacht, setzte ich mich gleich auf den ersten Platz in der ersten Reihe. Nach und nach kamen die anderen Jungs. Einer der Jungs kam sofort auf mich zu, wollte mir etwas sagen und öffnete dazu den Mund. Ich schaute zu ihm auf. Das kannte ich noch nicht. Meine bisher tief in mir sitzende Angst, die dadurch ausgelöste Unsicherheit und letztlich der unterwürfige Rückzug auf meinen Platz hinten in die Ecke unseres Klassenzimmers hatte ein Ende. Ich wusste nun, wer ich war und wo ich hingehörte. Der Zauber in mir nahm Gestalt an. Offensichtlich schaffte ich es nur mit meiner Körpersprache, eben dies dem Jungen vor mir verständlich zu machen.

Den Rest kennen Sie. Zu schön, um wahr zu sein, denken Sie? Sie haben Recht! Ich habe mir diese Geschichte nur ausgedacht. Genaugenommen handelt es sich hierbei um ein Märchen, dass sich bei uns Wonghi immer erzählt wurde. Das Ritual aber, durch das ein Junge ein Mann wird, gibt es bei den Ureinwohnern Australiens tatsächlich. Ich selbst habe mir dieses kleine Märchen immer wieder gerne von meiner Mutter erzählen lassen.

Heute versuche ich – gerade in der Vorweihnachtszeit – meinen Kindern immer wieder zu erklären: „In jedem Menschen wohnt auch ein Zauber.“ – und ich weiß, wovon ich spreche!

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