Welches ist die beste Kampfkunst? Diese Frage geistert immer wieder in den verschiedensten Medien umher und sorgt für die wildesten Spekulationen. Wie sinnvoll aber ist diese Frage und warum kommt man in der Beantwortung zu keiner – halbwegs – einheitlichen Position?
Würde man nach der besten Ballsportart, dem besten Schwimmstil oder der besten Turnübung fragen, würde man sofort zur Antwort bekommen, dass dies doch im Auge des Betrachters liegt. Jeder hat seine individuellen Vorlieben und kann diesen entsprechen. Die Wertungen „gut“ oder „schlecht“ existieren hier also nur – wenn überhaupt – als persönliches Ranking. Der eine mag gerne Fußballspielen, ein anderer schwimmen oder turnen.
Um zu verdeutlichen, dass sich die Frage nach der besten Kampfkunst ebenfalls nur in einem persönlichen Ranking spiegeln kann, ein paar Gedanken, Ideen und Informationen dazu. Im Folgenden werde ich übrigens – zum Zwecke der Übersichtlichkeit – den Begriff „Kampfkunst“ als Oberbegriff für die Begriffe „Kampfsport“ und „Selbstverteidigungssportart“ verwenden.
Kein Angebot ist für sich „gut“ oder „schlecht“
Zunächst ist ganz nüchtern festzustellen, dass – für sich – kein sportliches Angebot, einschließlich aller Kampfkünste „gut“ oder „schlecht“ ist. Es sind einfach nur Angebote, wie ein Schützenfest, Nutella, Deutsche Markenbutter, eine Jeans, eine Waschmaschine oder ein Auto. Sie sind einfach nur da. Ob und wann sie benutzt oder gekauft werden hängt ganz an den Bedürfnissen der Verbraucher. Es existieren keine Vorgaben oder Vorschriften, die jemand dazu nötigen, die o. g. Dinge erwerben oder benutzen zu müssen. Was allerdings existiert und versucht, auf die Bedürfnisse der Verbraucher Einfluss zu nehmen, ist die Werbung.
Ebenso ist es mit den sportlichen Angeboten bzw. den Hobbys der Menschen in Deutschland: Es gibt keine Regeln, Vorschriften oder gar eine höhere Macht, die eine Sportart bzw. ein Hobby als besonders wertvoll oder völlig ungeeignet einstufen. Insofern beantwortet sich auch hier die Frage nach „gut“ oder „schlecht“ ausschließlich im persönlichen Ranking.
Natürlich stellt sich auch die Frage, wie ein „gut“ oder „schlecht“ explizit bei den Kampfkünsten definiert werden könnte. Auf was wird sich bezogen? Auf ein leicht zu erlernendes System, auf eine Sieggarantie in einem Ernstfall auf der Straße, auf die Stärkung des Selbstbewusstseins, auf eine möglichst große Vielfalt an Techniken im System, auf gute und elegante Fußtechniken, auf ein hartes Training im Vollkontaktbereich, auf ein möglichst gesundheitsschonendes Training, auf Trainer, die selbst Türsteher oder beim Militär sind/waren, auf die Möglichkeit, schnell einen „schwarzen Gürtel“ zu erlangen, etc.?
Der Umstand, unter einer Vielfalt an Möglichkeiten das für sich beste Angebot zu finden, ist praktisch aus unserer Lebensmitte nicht mehr wegzudenken. Das fängt beim Einkauf von Lebensmitteln an, setzt sich im Bereich der Hygiene fort, geht weiter über den Bedarf an Bekleidung und Wäsche und hört dann irgendwann mal beim Kauf eines Hauses auf. Überall bekommt man auf eine Frage gleich mehrere Antworten, überall hat man die Wahl und damit steht man überall auch immer vor Entscheidungen. Mal fällt es uns leichter, mal schwerer. Leichter fällt es uns, wenn wir die Produkte bereits kennen, weil wir sie z. B. schon ausprobiert haben. Schwieriger fallen uns Entscheidungen, wenn wir unter Angeboten vergleichen müssen, die wir nicht kennen. Genau an dieser Stelle setzt die Werbung an.
Was Werbung mit uns macht
Werbung möchte grundsätzlich Hunger auf ein Produkt machen und zum Kauf animieren. Dabei wird auf Superlative gesetzt. So wäscht z. B. ein Waschmittel weißer und die Wäsche duftet viel besser, als bei anderen, konkurrierenden Waschmitteln, sind mehr unterschiedliche Vitamine in einem O-Saft, als in einem anderen O-Saft und läuft eine Batterie länger als andere Batterien. Werbung idealisiert und verspricht, weckt Wünsche und Bedürfnisse, lockt mit Angeboten bzw. Schnäppchen und ist praktisch überall präsent und omnipotent. Werbung macht auch etwas mit unserer inneren Gefühlswelt. Sie löst im Gehirn Prozesse aus, die im Areal des Belohnungszentrums ein ausgleichendes Pendant sucht. Kurzum: Die Werbefachleute wissen, welche Hebel sie in Bewegung setzen müssen. Die Frage ist also nur, von was sich jeder einzelne Verbraucher an-triggern lässt. Letztlich sollte bekannt sein, dass Werbung wenig Bezug zur Realität spiegelt und mit der Wahrheit bzw. Ehrlichkeit so seine Probleme hat. Für die Vermarktung eines Projektes ist jedes Mittel recht, auch wenn man dafür lügen muss.
Wo besteht aber hier ein Zusammenhang mit der Kampfkunst bzw. der Frage nach der besten Kampfkunst?
Man ahnte es vielleicht: Weltweit konkurrieren ca. 100 vollwertige Kampfkunstsysteme (zur Erinnerung: hierzu gehören ebenfalls alle Kampfsport- und Selbstverteidigungssportarten) um die Gunst der Interessenten. Praktisch hat damit fast jedes Land dieser Erde irgendwann mal ein oder mehrere Kampfkünste entwickelt. Warum wir in Deutschland vor allem die japanischen und i. d. F. auch die chinesischen Kampfkünste auf dem Schirm haben, liegt hauptsächlich an der gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit der Länder. Einerseits geht es hier um Bündnisse in Kriegen, andererseits um Beziehungen. Somit ist es kein Wunder, dass in Deutschland das Jiu-Jitsu, ein klassisches Selbstverteidigungssystem, als „ausländische Kampfkunst“ Vorreiter aller weiteren, aus den verschiedensten Ländern importierter Systeme wurde. Hier war es der deutscher Arzt Erwin Bälz, der Anfang des 19. Jahrhunderts am japanischen Kaiserhof tätig war und so den Import in das damalige deutsche Kaiserreich überhaupt ermöglichte.
Nach und nach wurden immer mehr Systeme in Deutschland ansässig, so dass heute auch in Deutschland praktisch jedes Kampfkunstsystem in den unterschiedlichsten Vereinen und Schulen erlernt werden kann. Genau damit haben wir auch in Deutschland einen Markt mit vielen, untereinander konkurrierender Kampfkunstsysteme, da nur jene Vereine und Schulen existieren bzw. überleben können, welche auch genügend Mitgliedsbeiträge generieren, um ihre Aufwände mindestens ausgleichen zu können.
Kampfkünste lassen sich untereinander nicht vergleichen
Zur Erinnerung: Nicht in jedem System ist Schlagen, Treten, Werfen, Trapping und/oder der Bodenkampf im Technikrepertoire vorhanden. Faktisch ist kein System, wie ein anderes. Die Unterschiede der Systeme spiegeln sich u. a. auch nicht nur im Technikrepertoire, sondern auch in der Art der Technikanwendung, in den Bewegungs- und Anwendungsprinzipien, in der Sichtweise auf Kampf und Verteidigung, in der Art des Trainings, in der Art der Kleidung und – vor allem – im kulturellen Background des Systems wieder. Man kann also sagen, dass die Kampfkunstsysteme genauso unterschiedlich sind, wie die Ballsportarten: Im Fußball wird der Ball mit dem Fuß, im Handball mit der Hand gespielt. Im Basketball ist der Ball groß, im American Football mittelgroß, im Polo sehr klein. Beim Faustball benötigt man lediglich den eigenen Körper, beim Tennis einen Schläger und beim Wasserball unbedingt Wasser. Beim Hockey benötigt man eine Schutzausrüstung, beim Tischtennis nicht. Wie gesagt: Die Systeme lassen sich untereinander einfach nicht vergleichen.
Am Ende steht der Verbraucher bzw. der Interessent, der entscheidet. Ein Problem hierbei ist, dass der überwiegende Teil jener, die sich für eine Kampfkunst interessieren, weder wissen, wie viele Angebote es in diesem Bereich gibt, noch, worin (genau) sich die jeweiligen Angebote voneinander unterscheiden. Damit fehlt Ihnen die Voraussetzung, die Kampfkunstangebote mit den persönlichen physischen, psychischen und emotionalen Erfahrungen abgleichen zu können. Und damit fehlt wiederum die Voraussetzung für das schon häufiger hier angesprochene persönliche Ranking. Im Vordergrund vieler Interessenten steht der Wunsch nach den kämpferischen Aspekten, das aufpäppeln der eigenen Wehrhaftigkeit, die Verbesserung der Fitness und Kondition, sowie – gerade bei Kindern, Jugendlichen und Frauen – die Aufarbeitung des Selbstwertgefühls.
Genau hier schließt sich der Kreis aller bisherigen o. g. Gedanken zu einem Ganzen.
Konkurrenz und ihre Konsequenz
Da die vielen unterschiedlichen Vereine und Schulen miteinander im wirtschaftlichen Wettbewerb stehen (gerade in Kommunen mit vielen Kampfkunst-Angeboten) und um Mitglieder „kämpfen“, konkurrieren sie untereinander und werben für sich. Womit werben sie? Natürlich mit maßlosen Übertreibungen, Superlativen und mit Lügen. Die Lüge der Unbesiegbarkeit, die Übertreibung der Omnipotenz und die Superlativen stärker, schneller, intelligenter. Stehen Kinder und Frauen im Fokus der Werbung, geht es um das Selbstbewusstsein, das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit, bei Jugendlichen und Männern hingegen zumeist um die drei „H’s“: Härte, Herausforderung, Handfestigkeit. Sicherlich bewegen wir uns dabei in der Welt der Klischees aber so funktioniert nun mal Werbung. Es geht ebenfalls um Schönheitsideale, wie z. B. den „Waschbrettbauch“, um Träumereien, wie z. B. einen Weltmeistertitel aber auch um sehr lebenspraktische Themen, wie z. B. nicht mehr Opfer von Mobbingattacken zu sein.
Das alles wird beworben. Obwohl wir tagtäglich mit diesen Übertreibungen, Superlativen und Lügen über die unterschiedlichsten Medien bombardiert werden und somit diesbezüglich über einen großen Erfahrungsschatz verfügen, versagt uns in manchen Dingen tatsächlich der Verstand, die Aufmerksamkeit und die Vernunft. In diesen Fällen übernimmt offensichtlich eine andere Macht unsere Willens- und Entscheidungskraft.
Die Theorie der 3 Grundwünsche
Meine Theorie hierzu ist die, dass wir uns gerade wegen der Bombardierung durch die schrille, realitätsverzerrende und allgegenwärtige Medienwelt (z. B. Werbung, Nachrichten, Reality-TV, Actionfilme) insgeheim eine kleine, heile, friedliche Insel als „Gegenwelt“ aufgebaut haben. Sie ist Schild und geistiger Zufluchtsort zugleich. Ziehen wir uns auf diese Insel zurück, lässt sie uns glauben, alles sei so, wie es ist, gut und in Ordnung. Auf dieser Insel können wir uns geborgen fühlen und uns dort wie an einem unsichtbaren Geländer orientieren und anlehnen. Auf dieser Insel haben wir nichts zu befürchten. Niemand will etwas von uns und tatsächlich entscheidet hier jeder für sich, ausschließlich auf Grundlage seines eigenen Willens.
Weiterhin glaube ich, dass sich Menschen heutzutage an drei Grundwünschen orientieren und ausrichten: Gesundheit, Reichtum, Sicherheit. Um diese drei Grundwünsche dreht sich praktisch das ganze Leben. Natürlich besitzen die meisten von uns die Intelligenz zu wissen, dass es weder eine Unter- noch eine Obergrenze zur Erreichung dieser Grundwünsche gibt, wobei die Untergrenze im Bereich der Gesundheit wohl der Tod sein dürfte. Ich will hier gar nicht näher auf die Philosophie dieser Grundwünsche eingehen, sondern lediglich durch ein paar Beispiele verdeutlichen, wie wir letztlich auch zu der Idee kommen, dass es eine „beste Kampfkunst“ geben könnte.
Körperfett zu verlieren, ohne sich zu bewegen oder Muskelmasse im Schlaf aufzubauen, klingt einfach zu schön, um wahr zu sein. In der realen Welt wissen wir, dass dies nur über eine enorme Anstrengung (z. B. Diät, viel Training) zu bewerkstelligen ist. Folgen wir aber nicht den Gesetzmäßigkeiten der realen Welt, weil wir hier vielleicht schon an unsere Grenzen gestoßen sind, und ziehen uns auf unsere Insel zurück, fühlen wir uns den Kernaussagen der Werbung gleich viel näher. In der Folge entsteht der Wunsch, es einfach mal ausprobieren zu wollen. Auf unserer Insel dürfen wir das, weil hier auch unsere Träume und Sehnsüchte ihren entsprechenden Platz haben. Also bestellen wir uns eben diese Pillen und probieren sie aus.
Genauso funktioniert auch die Sache mit der Sicherheit. Man weiß, dass es die Sicherheit nicht gibt und nie geben wird, ebenso eine Unbesiegbarkeit. Aber genau das verspricht die Werbung. „Lerne Dich effektiv zu verteidigen“, heißt es in einem noch relativ harmlos formulierten Slogan, der suggeriert, sich nach dem Erlernen einer Kampfkunst nicht nur verteidigen zu können, sondern dies auch noch „effektiv“ gestalten zu können. Eine andere Kampfkunst wirbt: „17 zerstörerische Blitz-Verteidigungen reichen völlig aus, um dich und deine Geliebten in jeder Situation beschützen zu können.“ Dieser Slogan ist eigentlich sehr einfach zu entlarven, weil er die Strategie „weniger ist mehr“ verfolgt. Wir kennen das von den beiden Werbedörfern „Villarriba“ und „Villabajo“. Da geht es um die Effektivität eines Spülmittels, dass mit ganz wenig Aufwand ganz viel erreichen kann. Der Slogan der Blitz-Verteidigung geht aber noch weiter. Er verspricht, dass eben diese 17 Techniken ausreichen, sich und seine Geliebten in jeder Situation zu beschützen. Hier geht es also um das Versprechen der totalen Sicherheit. Eine glatte Lüge, denn so etwas gibt es in der Realität nicht.
Da der Wunsch nach Sicherheit einen der drei Grundwünsche bedient und die o. g. Slogans mehr oder weniger deutlich genau diesem Wunsch entsprechen, repräsentieren sie für Menschen mit Interesse an der Kampfkunst praktisch den zugehörigen Deckel auf ihren Topf. Der Verstand sagt: Alles nur leere Versprechungen. Da es sich aber um einen Grundwunsch handelt und die Entscheidungen hierfür eher auf „der Insel“ fallen, werden sich eben viele auf Grundlage dieser Werbung für die entsprechende Kampfkunst entscheiden und dazu stehen.
Sicherlich werden nun einige Leser an dieser Stelle finden, dass sich das ganze ziemlich konstruiert anhört. Ist es sicherlich auch irgendwie. Es ist aber meine These, um zu erklären, warum einige Anbieter damit werben, „die beste Kampfkunst“ zu trainieren, es gleichfalls aber eben diese „beste Kampfkunst“ nicht gibt und nie geben wird. Es ist und bleibt ein Produkt aus der Trickkiste der Werbestrategen.
Kurze Zusammenfassung
Ich habe in diesem Blog erklärt, warum es keine „guten“ oder „schlechten“ Kampfkünste geben kann und warum sich – übergeordnet – die Kampfkünste untereinander auch gar nicht vergleichen lassen. Insofern habe ich bereits an dieser Stelle ein sehr realistisches Argument zur Eingangsfrage platziert. Ferner habe ich darüber berichtet, wie Werbung funktioniert und wie – im direkten Umgang mit dieser medialen Bombardierung – die Menschen mit dieser täglichen Konfrontation umgehen, bzw. welche Mechanismen sie dafür/dagegen entwickelt haben. Weiterhin habe ich die These der drei Grundwünsche der Menschen nach Gesundheit, Reichtum und Sicherheit ins Gespräch gebracht und auch diese in den Kontext von Werbung und Realität mit eingebunden. Letztlich wurde – hoffentlich – deutlich, warum sich die Frage nach „guten“ und „schlechten“ Kampfkünste nach wie vor hartnäckig hält und warum wir trotz aller Vernunft den Werbestrategen immer wieder auf den Leim gehen (werden).
Sicherlich könnte man wiederum die o. g. ganz unterschiedlichen Blickwinkeln noch intensiver betrachten, um so weitere, evtl. widersprüchliche und nicht zu den o. g. Inhalten passende Fragen zu vertiefen. So z. B. die Frage, warum im Fernsehen z. B. auf Pro7 explizit in den Sendungen „Welt der Wunder“ oder „Galileo“ immer wieder über Kampfkünste berichtet wird, die anscheinend absolut tödlich und von daher absolut wirkungsvoll sind. Weitere Fragen könnten sein, warum man in der Kampfkunst Bretter zerschlägt und welche physische und physikalische Realität dahinter steht, warum das Kämpfen im Training, in Filmen und bei Vorführungen nichts mit der Realität zu tun hat und warum ein schwarzer Gürtel nur etwas über die Technikqualität eines Sportlers aussagt, nichts aber über dessen Wehrhaftigkeit. Wer möchte, kann diese – oder noch viele weitere Themen – gerne ergänzen, vielleicht finde ich später noch einmal Zeit, dazu gesondert etwas zu schreiben.
Wie immer wäre ich sehr dankbar über Rückmeldungen. So kontrovers diese Rückmeldungen bzw. Kritiken auch sein mögen, eines sollten sie ganz sicher sein: durchdacht, argumentativ sicher und seriös.